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Gedächtnis

Persönliche Erinnerungen sind labil und unzuverlässig, sie lassen sich auch nicht leicht steuern. Das hat der Schriftsteller Cees Nootebom wohl gemeint, als er schrieb: „Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will.“ Deshalb haben Kulturen seit Menschengedenken besondere Sicherheitsvorkehrungen erfunden, um das kollektive Gedächtnis zu stärken. Es gibt Sicherungsformen der Dauer und Sicherungsformen der Wiederholung. Beide schließen sich keineswegs aus, denn, wie Platon bereits wusste, bleibt das, was fixiert und abgespeichert ist, tot, vergessen und fremd, wenn es nicht periodisch durch Akte der Wiederholung erneuert, aktualisiert und angeeignet wird. Sicherungsformen der Dauer umfassen schriftliche Zeugnisse und Bilder in Bibliotheken, sowie Sammlungen von Dokumenten in Archiven und Artefakten in Museen. Unter dem Dach der jeweiligen Institution sind diese Bestände des kulturellen Gedächtnisses für eine unbestimmte Zukunft geschützt, gesichert und auf Dauer gestellt. Sicherungsformen der Wiederholung sind dagegen Jubiläen und Gedenktage, die in den allgemeinen Kalender einer Gesellschaft eingetragen sind und mithilfe von Riten, öffentlichen Medien und einem vielfältigen Veranstaltungsprogramm ein zeitlich begrenztes Aufmerksamkeitsfenster für ein Ereignis der Vergangenheit in der Gegenwart öffnen. Beispiele dafür sind kirchliche Feste wie Weihnachten und Ostern, aber auch die Geburts- und Todestage von Künstlern oder historische Ereignisse.

 

Bis vor kurzem standen die Sicherungsformen der Dauer im Mittelpunkt des Interesses. Kulturen wurden als vorrangig als „Text“ aufgefasst und im selbstverständlichen Rahmen von Bibliotheken, Museen oder Archiven erforscht. Seit Beginn des Millenniums hat die kulturwissenschaftliche Forschung jedoch das Stichwort „Performativität“ entdeckt und widmet sich vermehrt den Prozessen des Aufführens, Inszenierens, Verkörperns, Teilnehmens und Erlebens, kurz: den Sicherungsformen der Wiederholung zu bestimmten Zeiten und an besonderen Orten. Erinnerung erfolgt ja nicht ein für allemal, sondern geschieht repetitiv und rekursiv in wiederholten, zeitlich aufeinander folgenden Akten.  Sie muss, wenn sie erhalten werden soll, reaktiviert, und das heißt: neu ausgelöst bzw. „getriggert“ werden. Erinnern ist ein plastischer Prozess. Wer sich mit dem Gedächtnis befasst, muss die Wandlungsfähigkeit seiner Repräsentationen in Rechnung stellen. Menschen erinnern stets in der Gegenwart; das heißt, dass sie unter neuen Einflüssen und Eindrücken immer wieder anderes und anders erinnern. Besonders drastisch geschieht dies nach einer politischen Wende. Da werden die ehemaligen Vorbilder vom Sockel gestürzt und das vormals Vergessene oder Verfemte rückt ins Zentrum der Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Unter solchen Voraussetzungen ist der Akt des Zurückholens von Geschichte in die Gegenwart alles andere als ein ritueller oder routinemäßiger Akt. In der Erinnerungskultur schließt Wiederholung immer schon eine kritische Neubewertung der Vergangenheit unter dem Eindruck aktueller Chancen und Gefahren mit ein. Hier hilft der Begriff der „Iteration“ weiter. Iteration ist eine Wiederholung mit Differenz und beschreibt sehr genau die Sicherungsformen der Wiederholung in performativen Akten der Veränderung, Erneuerung und Rekontextualisierung von Geschichte.

 

Aber wofür brauchen wir überhaupt historische Erinnerung, Jubiläen und Gedenkjahre? Wie mit der Uhr durch den Tag navigieren wir mit dem Kalender durch das Jahr. Das Steuerungsinstrument Kalender koordiniert nicht nur unsere Aufgaben und Termine, sondern rhythmisiert auch das kulturelle und historische Gedächtnis einer Gesellschaft. Die Bedeutung des Kalenders für das Leben hat der Autor Daniel Defoe in seinem Roman Robinson Crusoe (aus dem Jahre 1718) sehr genau beschrieben. Robinson wird nach einem Schiffbruch im Pazifik an die Küste einer kleinen Insel gespült, auf der er über 28 Jahre lang durchhalten muss, bis er von einem englischen Schiff wieder abgeholt wird. Die vielen Kultur-Techniken, die er dort noch einmal nacherschafft, sind vordringlich Überlebenstechniken, die der Behausung und Nahrungsvorsorge gelten. Robinson entwickelt aber auch wichtige Techniken für sein mentales und spirituelles Überleben, die ihm helfen, die Zeit zu strukturieren und ein Selbst aufzubauen. Neben dem Tagebuch, das er zur Selbsterkundung einsetzt, dient ihm zum Navigieren in der Zeit eine lange Holzplanke, die er vom Wrack des gestrandeten Schiffes geborgen hat und die er mithilfe von Einkerbungen in einen Kalender verwandelt. Dieser Kalender hat für Robinson eine doppelte Funktion: Er dient einerseits zum Messen der Zeit und andererseits – nicht weniger wichtig – zum Erkennen von Feiertagen und Jahrestagen. Indem er jeden 7. Tag durch eine etwas längere Einkerbung markiert, kann er den Sonntag heiligen und seinem Leben einen Rhythmus geben. Darüberhinaus nutzt er den Kalender auch, um besondere Jahrestage zu feiern. Der wichtigste Feiertag in seinem Kalender ist der 30. September. An diesem Tag ist er nicht nur geboren (im Jahre 1632), sondern auch auf die Insel gespült worden (1659). Er begeht diesen Tag, an dem zunächst sein Leben und 27 Jahre später sein Überleben begann, jährlich mit Fasten und Beten, um sich an die wunderbare Rettung zu erinnern, die eine äußere und innere Wende in sein Leben gebracht hat. Sein Kalender hilft ihm auch, anhand weiterer herausragender biographischer Daten den religiösen Plan der Heilsgeschichte in seinem Leben abzulesen. An einem 1. September nämlich hat er sich über das Verbot seines Vaters hinweggesetzt und ist an Bord eines Schiffes gegangen und an einem 1. September ist er in Afrika in Gefangenschaft geraten; an einem 19. Dezember gelang ihm die Flucht aus der Sklaverei und an einem 19. Dezember wiederum wurde er von der Insel befreit. Wer auf Daten achtet, so die Botschaft des Romans, kann die Handschrift Gottes in der eigenen Biographie entziffern. Der Kalender ist für Crusoe also weit mehr als ein reiner Chronometer, mit dem er den linearen Fluss der Zeit registriert; er ist das Rückgrat seiner individuellen, religiösen und kulturellen Identität.

 

Nicht nur Individuen wie Robinson Crusoe, auch ganze Gesellschaften organisieren ihre nationale Identität mit Hilfe eines Kalenders. Dafür brauchen sie keine Holzplanken, sondern Zeiten und Orte, an denen ein bedeutsames Geschichtsereignis vergegenwärtigt wird. Das Haus der Geschichte Österreich mit seiner Republikausstellung am Heldenplatz 1918-2018 tut genau das: Sie öffnet für dieses historische Datum ein Aufmerksamkeitsfenster, stellt es in einen neuen Kontext. Dabei zeigt sich, dass die historische Bedeutung des Jahres 1918 einen ganz anderen Stellenwert hat als die erinnerungskulturelle Bedeutung von 1918. Während die Historiker die Bedeutung des Jahres 1918 in einer langen chronologischen Reihe als Folge von vorausgehenden Ereignissen und Ursache für nachfolgende Ereignisse untersuchen, stellt das Gedenkjahr die Beziehungen zwischen Geschichte und Gegenwart in den Mittelpunkt. Diese Bedeutung besteht in einer Reihe von Denkanstößen und Fragen, zu denen die Ausstellung anregt: Was bedeutete die Einführung der Demokratie nach 630 Jahren Monarchie? Und was bedeutet sie heute nach 100 Jahren und der Erfahrung zweier Diktaturen? Welche Bedeutung hat die Demokratie für die österreichische Identität? Kann Europa eine Ressource für Österreich sein? Wie hat sich die österreichische Gesellschaft in den letzten 100 Jahren verändert und wie wird sie sich in den nächsten Jahren verändern? Auf welche alten und neuen Traditionen und Erfahrungen kann sie dabei bauen?  Die Antworten auf solche Fragen können in der Ausstellung nicht per Knopfdruck abgeholt werden, vielmehr sind die Besucherinnen und Besucher aller Generationen im Gedenkjahr 1918-2018 eingeladen, selbst aktiv mitzuwirken an dem gemeinsamen Prozess der historischen Erkundung, des Diskutierens, des Nachdenkens und der Selbstverortung in der Geschichte.

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