Das Schnitzel, eine Welt Spurensicherung
Das Wiener Schnitzel ist kein Diebsgut, wohl aber eine Mystifikation. Es gilt als "signature dish" (wie das heute auf gut Denglisch heißt) der sog. Wiener Küche, die ihrerseits als "fusion cuisine" von Elementen gilt, die aus Süddeutschland, Böhmen und Mähren, Ungarn, Italien und dem Balkan stammen; trotzdem scheint das Schnitzel darin interessanterweise eine der wenigen bodenständigen Speisen zu sein.
Zunächst aber einmal ganz fleischlich: Andrea Maria Dusl definiert das Wiener Schnitzel durchaus korrekt als eine "in Bröseln gebackene Kalbfleischschnitte"– dazu muss man für Nicht-Österreicher/innen hinzufügen, dass "backen" hier 'Herausbacken' heißt, also nicht im Backrohr, sondern im siedenden Pflanzenöl (gesünder) oder (ursprünglicher) in Tierschmalz, in der Pfanne bzw. neumodischer in der Fritteuse.
Linguistisch, so der Sprachforscher Heinz Dieter Pohl, ist "Schnitzel" als Begriff nichts anderes als eine süddeutsch-österreichische Verkleinerungsform von "Schnitte", einem ziemlich multifunktionalen Wort (in der DDR etwa bedeutete es 'Butterbrot'). In den Kochbuch-Klassikern des 19. Jahrhunderts komme es freilich noch nicht häufig vor. "Panier" wiederum stammt von frz. pain (Brot) ab und müsste eigentlich "Panade" heißen – obwohl zwischen Wiener, Pariser und anderen Schnitzeln ohnehin heiß diskutiert wird, ob Semmelbrösel und/oder Mehl dazugehören müssen; unstrittig ist lediglich das Ei.
Das Schnitzelfleisch jedenfalls (am besten: Kalbsrücken) muss gegen die Faser geschnitten sein. Seitdem aber in den 1960er Jahren der Fleischpreis für Borstenvieh verfiel, ist das Schnitzel proletarischer geworden, d.h. schweinischer und unkoscherer. Oder geflügelter, essen doch inzwischen eine Reihe Menschen aus religiösen oder angeblich gesundheitlichen Gründen Hühnerschnitzel.
Aber Menschen aus Wien bzw. Zentraleuropäer/innen generell neigen ohnehin dazu, alles zu panieren: Neben Schnitzeln etwa Käse, Fisch, Karfiol [Rosenkohl], Pilze und sogar Leberkäs; angeblich bleibt das in den gebräunten, fetttriefenden Bröseln Eingeschlossene saftig – aber wie ist das mit dem Geschmack? (Ein lieber Freund, der seinen Wehrdienst in einer Wiener Kasernenküche absaß, gewann dort eine Wette, dass man sogar einen Wetex-Putzlappen in Mehl, Ei und Bröseln herausbacken könnte; bedauerlicherweise wurde dann die kulinarische Kreation ausgerechnet an einen Offizierstisch serviert.)
Bleibt also noch die historische Herkunft des Schnitzels zu klären, und die wiederum war lange umstritten: Aber, so "simpel, wie die viel zitierte Legende, dass die kolonialistischen Wiener der Donaumonarchie einfach das berühmte 'Costoletta alla milanese' auf Anregung des Feldmarschalls Radetzky [Mitte des 19. Jahrhunderts] eingemeindet hätten, verhält sich die Sache aber doch wieder nicht," schreibt Gabi Weiss 2016 durchaus richtig (in: Wie kam der Vanillerostbraten zu seinem Namen?) Angeblich habe ein Graf Attems, der Flügeladjutant des österreichischen Kaisers Franz Joseph, einen Lagebericht Radetzkys über die Lombardei weitergegeben und in einer Randnotiz ein köstlich paniertes Kalbskotelett erwähnt. Nach Radetzkys Rückkehr habe der Kaiser ihn persönlich um das Rezept gebeten!
Diese selbstkritische Ursprungsgeschichte, nach der das Schnitzel so etwas wie eine österreichische Kriegsbeute im italienischen Risorgimento – und damit nichts anderes als eine gewaltsame Eingemeindung des sog. Mailänder Schnitzels – wäre, entpuppte sich aber für Sprachforscher Pohl als Mär: Sie entbehre der historischen Grundlagen, d.h. Originalquellen, sondern dürfte 1969 von einem italienischen Gastronomieführer, der Guida gastronomica d'Italia aufgebracht worden sein, der 1971 unter dem Titel Italien tafelt auch auf Deutsch erschien: zu einer Zeit also, als das österreichisch-italienische Verhältnis noch durch die sog. "Bumser" (eine Bomben legende Südtiroler Terrororganisation) nicht nur kulinarisch getrübt war.
Schon im Mittelalter, so weiß indes Weiss, habe es vergleichsweise maurische Speisen in Andalusien und ein jüdisches Fleischgericht in Konstantinopel gegeben, die als Ahnväter des Wiener und Mailänder Schnitzels gelten dürfen – ebenso wie jenes oberitalienische Verbot von 1514, Speisen zu vergolden, das angeblich auch zum Siegeszug des Panierens beitrug. Das Schnitzel könnte somit "orientalische" Wurzeln für sich reklamieren und den Triumph des schönen Scheins (der in der Tat die Speise, die zu den einfachsten der Wiener Küche zählt, doch als Gegensatz von goldiger Form und zähem Inhalt immer wieder heimsucht).
Wird hier also eine historische 'multikulti'-Legende durch eine andere ersetzt? Wie man heute weiß, ist auch die sog. Wiener Küche als Ganzes eine Fiktion, eine "invented tradition" (Benedict Anderson), wie sich dies archetypisch in Adolf und Olga Hess' legendärem Kochbuch-Bestseller aus dem Jahr 1913 (43. Auflage 1997) ausdrückt: Die Regionalküche der Metropole sei in der "Vielvölkermonarchie entstanden", indem "sich in ihr in friedfertiger Symbiose eine besonders glückliche Auslese der einzelnen Nationalspeisen zu einem ebenso typischen wie harmonischen und jedenfalls bestens bekömmlichen Ganzen zusammengefügt hat". Der "Habsburgische Mythos" (Claudio Magris) war hier also der Vater des imperialen Wunsches wie des kulinarischen Gedankens, und so wird auch die "Wiener Küche", wie Julia Danielczyk und Birigt Peter meinen, zum "Archiv nationaler Identitätskonstruktionen", von denen einige durchaus erst post festum erfolgten.
Allerdings war schon dem Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai um 1800 die Esslust der Wiener/innen ein Gräuel, ein katholischer Quietismus, der quasi viel isst, verdaut und vergisst. Im österreichischen Vormärz, der sog. "Biedermeier"-Zeit, erringt die Kaiserstadt endgültig ihren Ruf als Hauptstadt der "Phäaken" – einem kulinarischen Volksstamm, dem noch der Nazisympathisant Josef Weinheber 1935 folgende unsterblichen Verse widmete: "ein Hühnersupperl tadellos, / ein Beefsteak in Madeirasauce" usw.
Ein Wiener Schnitzel kommt bei Weinheber interessanterweise nicht vor. Dennoch, so dürfen wir aufgrund der konsultierten Forschung schließen, ist es ein "frühbürgerliches Gericht", das "in Wien nachweislich seit 170 Jahren zu bereitet wird", wie Richard Zahnhausen 2001 befand: eine "autochtone Speise", die sich "aus einer typisch bäuerlich-bürgerlichen Produktionssituation", im Amalgam von Fleisch, Mehl, Ei und Bröseln entwickelte". Und so haben wir gerade aus jener von Nicolai geschmähten Biedermeier-Zeit etliche Belege für Schnitzel-Liebhaber, am prominentesten wohl der spätere österreichische Kaiser Franz Josef und sein Bruder Ferdinand Max, der spätere Kaiser von Mexiko (der 1867 vor den Gewehrläufen eines revolutionären Erschießungskommandos endete). Am Anfang der Wiener Küche steht aber, wie wir aus allen Zeugnissen vermuten dürfen, als ihr wohl typischstes Gericht: das Backhendl.
Schnitzel-Forscher Zahnhausen sieht in diesen schmutzigen, d.h. ungeklärten und mystifizierten, Ursprüngen gewisse "mentalitätsgeschichtliche Ähnlichkeiten zwischen Schnitzel und Chop Suey." Letzteres soll ja das Licht der Küche angeblich in San Francisco erblickt haben. Dahinter verbirgt sich freilich ein Restlessen aus Südkanton, das in Kalifornien lediglich in den Rang einer eigenen Speise erhoben wurde. Ähnliches gilt für das Schnitzel, das zum falschen Italiener ernannt wurde, um ihm mit der angeblichen gastronomischen Eroberungslust mehr (imperialen?) Glamour zu geben. Zur zentralen Position in der österreichischen Küche gelangt es neben Backhendl und Tafelspitz aber offenkundig erst im 20. Jahrhundert.
Trotz dieser kurzen Genealogie ist das goldbraune Fleischgericht dennoch ein wichtiges Kultursymbol geworden, wenn etwa vom "schnitzelförmigen Land" Österreich die Rede ist, oder von der "Einser-Panier", mit der Wiener gemeinhin sein bestes Ausgehgewand bezeichnet. Das Schnitzel wird auch gerne als Einheit mit seiner wohl wichtigsten Beilage, dem Erdäpfelsalat, gesehen, so etwa, als das Bundesland Niederösterreich in den 1980er Jahren sein eigenes Verwaltungszentrum suchte und textete: "Ein Land ohne Hauptstadt ist wie ein Schnitzel ohne Kartoffelsalat." Dagegen wurde mit dem Backhendl schon häufig in Satire und böswilligem Spott das österreichische Staatsymbol ersetzt – der Adler, der seit 1919 nur mehr einen Kopf hat und heute in einigen Karikaturen sich über zwei gekreuzten Bananen ausruht.