1924: Attentat auf Bundeskanzler Seipel
Zuspitzung der Gewalt nach den Sanierungs- und Sparmaßnahmen
Da die von Bundeskanzler Ignaz Seipel mit den „Genfer Protokollen“ erreichte Völkerbundanleihe mit schmerzhaften Sparmaßnahmen und einem Ansteigen der Arbeitslosigkeit verbunden war, wurde Seipel zur zentralen Figur der Kritik der Sozialdemokratie. Vor dem Hintergrund dieser ständigen verbalen Hetze gab wohl der 29-jährige Spinnereiarbeiter Karl Jaworek aus Pottendorf in Niederösterreich, Seipel die Schuld an seinem Elend und schoss am 1. Juni 1924 am Bahnsteig des Südbahnhofs aus nächster Nähe auf den Kanzler. Dieser wurde durch einen Lungensteckschuss schwer verletzt. Jaworek schoss sich ebenfalls in die Lunge und wurde noch am Bahnsteig festgenommen. Außer wirren Aussagen Jaworeks gab es keine Hinweise auf Hintermänner des Attentäters. Viele Christlichsoziale glaubten allerdings, Seipel sei einer sozialdemokratischen und kommunistischen Verschwörung zum Opfer gefallen.
Karl Jaworek wurde zu fünf Jahren schweren Kerkers, die er in der Strafanstalt Stein zu verbüßen hatte, verurteilt, seine Frau erhielt von Seipel eine finanzielle Unterstützung. Der Bundeskanzler war auf Grund seiner Verletzungen vier Monate arbeitsunfähig. Obwohl noch nicht gänzlich erholt, fuhr Seipel zu den Verhandlungen der Herbsttagung 1924 des Völkerbunds, kam von diesen aber völlig überanstrengt und geschwächt zurück. In Österreich sah er sich wegen seiner Sparforderungen mit heftigem Widerstand aus den Ländern konfrontiert. Offensichtlich fühlte er, dass er noch nicht die notwendige Kraft besaß, das Sanierungsprogramm nach seinem Willen durchzusetzen. Er trat zurück und wurde am 20. November 1924 durch einen Mann seines Vertrauens, dem Salzburger Rechtsanwalt Rudolf Ramek, als Bundeskanzler abgelöst.