1918: Höhepunkt der Grippe-Pandemie
Die tödlichste Welle
Im Oktober 1918 verbreiteten sich Befürchtungen in der Bevölkerung, dass die Lungenpest umgehe. Das Gesundheitsministerium stellte richtig, dass der Prager Bakteriologe Anton Ghon nachgewiesen hatte, dass die Krankheit nichts mit einer Pest zu tun habe. Aber auch die Grippe-Pandemie unterschätzte das Ministerium: Trotz der großen Zahl von Todesfällen nähme die Grippe im Allgemeinen einen gutartigen Verlauf, lautete die Meinung des Gesundheitsministers. Eine Verbreitung in Österreich sei nicht zu verhindern, vor allem auch deshalb, weil man den Erreger nicht kenne. Versucht wurde, Aspirin aus internationalen Quellen zu bekommen, da in Österreich nur geringe Mengen davon vorhanden waren. Schließlich stellte das Österreichische Rote Kreuz aus seinen Vorräten eine größere Menge des Medikaments zur Verfügung. Um Hamstern und Schleichhandel zu verhindern, durften nur kleine Mengen an Einzelpersonen verkauft werden.
Von da an spielten auch Überlegungen zur Isolation eine Rolle: Personen, die von nur leicht Erkrankten angesteckt wurden, konnten auch die tödliche Form der Grippe bekommen. Daher hätte man auch alle leicht Erkrankten isolieren müssen, was aber in dieser Zeit nicht durchführbar war.
Anfangs waren die Schulen kurzzeitig geschlossen worden. Das Verbieten des Besuches von Kaffeehäusern, Kinos, Theater etc. betrachtete das Gesundheitsministerium als nicht sinnvoll, weil sich Menschen vor allem beim Fahren mit der Straßenbahn und der Eisenbahn und beim Einkaufen von Lebensmitteln anstecken würden.
Für jedes Krankenhaus wurde die Einrichtung eines eigenen, isolierten Grippezimmers angeordnet. Im Barackenspital in Meidling, im Tuberkulosepavillon im Krankenhaus Hietzing und im Wilhelminenspital wurden Grippeabteilungen eingerichtet. Damit standen vorläufig rund 700 Betten für Grippepatient*innen zur Verfügung. Trotz aller Beteuerungen des Ministeriums fehlte es an Notspitälern, sodass Akutpatient*innen abgewiesen und in Polizeikommissariaten untergebracht werden mussten. Mit der Beerdigung der Leichen kam man nicht nach, sie mussten oft eine Woche in den Wohnungen liegen. Bestattungen konnten nicht stattfinden, weil keine offenen Gräber zur Verfügung standen und die Friedhofshallen mit Leichen überfüllt waren. In mehreren Bezirken mussten rasch Erweiterungen der Friedhöfe vorgenommen werden.
Am meisten betroffen waren Personen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Menschen über 40 Jahre hatten – nach Ansicht des Internisten Norbert von Ortner – im Zuge der Epidemie 1889/90 die Grippe überstanden und dadurch einen hohen Grad an Immunität erworben.
Den zahllosen Meldungen über Erkrankungen und Tote in den kleinen Landgemeinden kann man entnehmen, dass keineswegs nur die Städte besonders betroffen waren. Im Gegenteil: landwirtschaftlich dominierte Bezirke im Gebirge waren besonders häufig Ort von zahlreichen Todesfällen. In Graz starben während des Grippeherbsts 1.091 Personen durch die Spanische Grippe bzw. an Lungenentzündung. In den ländlichen Gemeinden rund um Graz breitete sich die Krankheit gegenüber der Landeshauptstadt um etwa ein Monat verzögert aus, aber deswegen nicht weniger heftig. Je weiter ein Ort von den Hauptverkehrswegen entfernt lag, umso mehr verschob sich der Höhepunkt der Krankheitswelle zeitlich, in vielen flaute die Grippewelle erst im Jänner 1919 ab.
Als es zwischen 1. September und 19. Oktober allein in Wien 3125 Tote gab, wurden endlich auch Kaffees, Kinos, Restaurants, Theater etc. gesperrt.
In weiterer Folge flachte die Pandemie etwas ab, um im Jänner 1919 vor allem in Budapest wieder aufzuflammen und im Frühjahr 1922 nochmals Österreich heimzusuchen. Die Ursache dafür könnte in nicht konsequent fortgesetzten Gegenmaßnahmen zu suchen sein. Während der letzten Welle kam auch Ex-Kaiser Karl am 1. April 1922 im Exil in Funchal ums Leben. Er starb an einer doppelseitigen Lungenentzündung, als Spätfolge einer Erkrankung an der Spanischen Grippe im Dezember 1918.