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Nationsbildung im Schnee

Winter 2020/21. Die Theater und Konzertsäle der „Kulturnation“ Österreich bleiben geschlossen, die Skipisten offen. In der „Corona-Krise“ werden Prioritäten überdeutlich sichtbar. Das Rabenhof-Theater am Wiener Erdberg hat das verstanden, um „ein legales Kulturerlebnis zu ermöglichen“ und aufsperren zu können, präsentierte es das „Skiressort Erdberger Alpen“.

Zwar behaupten die Entscheidungsmächtigen, dass das Eine eben im geschlossenen Raum eher Infektionen fördere, das Andere im freien Raum viel weniger. Die Bilder von Rudelbildungen in den Skiressorts, von eng beieinander stehenden Mengen vor Kassen und Gondeln sprechen eine andere Sprache. Trotz der Katastrophe von Ischgl, wo sich halb Europa beim Après-Ski angesteckt hat, führen nach wie vor die Seilbahnmanager das große Wort. Und treffen auf Verständnis, schließlich gehört Skifahren in Österreich zu den wesentlichen Elementen der heimischen Identität. Dies hat Geschichte.

 

Im Schnee der Dolomitenhänge um Cortina d'Ampezzo begann am 29. Jänner 1956 eine Beschleunigung der österreichischen Nationsbildung.

Bei den Olympischen Winterspielen siegte im Riesenslalom der zwanzigjährige Toni Sailer aus Kitzbühel, sechs Sekunden vor seinen Mannschaftskameraden Anderl Molterer und Walter Schuster. Zur Ehrung flatterten drei rot-weiß-rote Fahnen, während die Hymne Land der Berge ertönte. Zwei Tage später gewann Sailer den Slalom – mit Startnummer 135, da er seine richtige, die 15, im Hotel vergessen hatte. Der umfassende alpine Triumph ist am 3. Februar komplett. Mit hundert Stundenkilometern sauste der „Schwarze Blitz aus Kitz“ die Tofana hinunter. An der schwierigen Stelle unter der kleinen Heuhütte, wo einige Konkurrenten stürzen, riss es ihm die Bretter zu einem großen V auseinander, er vermochte gerade noch zu korrigieren und holte auch in der Abfahrt den Olympiasieg, zudem den Weltmeistertitel in der Kombination mit der „Idealnote Null“. Alle Rennen im Zeichen der Fünf Ringe zu gewinnen, gilt als einmalige, unüberbietbare sportliche Heldentat.

Der offizielle Bericht der Spiele vermeldeten, das österreichische Skiteam sei zweifellos das stärkste der Welt und der fesche Toni Sailer „a splendid young athlete, always smiling and untroubled“. Die Zeitung Neues Österreich betonte: Es „erscheint uns von besonderer Bedeutung, daß dieser rot-weiß-rote Triumph gerade im Sport errungen wurde“. Die heimischen Politiker stimmten in den Jubel ein, beim Festempfang in Innsbruck sprach der Landeshauptmann: „Mit jedem neuen Sieg erwacht hier in der Heimat der Stolz, Tiroler und Österreicher zu sein.“ Der nationale Gefühlsmotor lief auf Hochtouren. In Wien erwarteten Zehntausende den „Goldenen Toni“, die Regierung entbot am Westbahnhof ihr Willkommen. In der Hofburg trug der Bundespräsident dem Olympiateam auf: „Bleiben Sie liebe, gute Sportler und brave Österreicher.“ Noch im selben Jahr erhielt Toni Sailer das Große Ehrenzeichen für die Verdienste um die Republik.

 

Elf Jahre nach Kriegsende, bei der ersten großen Sportveranstaltung nach Unterzeichnung des Staatsvertrages, waren die braven Österreicher endlich Sieger. 1945 hatten sich die meisten Menschen im Land als Verlierer empfunden, bald dann als Opfer im Sinne der von den Autoritäten propagierten These. Nach dem bewusstseinsgeschichtlichen Bruch, dem Deutschen Reich abschwören zu müssen, ermöglichte das „Weiße Wunderteam“ eine Gefühlsfixierung auf das offiziell nunmehr Eigene. Sie erstand aus einem ähnlichen gemeinschaftlichen Erfolgserlebnis wie in der BRD das „Wunder von Bern“, der deutsche Sieg bei der Fußball-WM 1954 (dass hier die Österreicher Dritte wurden, hatten Medien und Publikum in der Heimat als Niederlage benörgelt). Der Wunder-Diskurs mit seiner metaphysischen Absicherung fand sich beim Skilauf vom unschuldigen Weiß gestützt, dem reinen Image der jungen Helden. Ihre Siege passten der Republik in die Aufbaustrategie. Nach sieben Jahren „Tausendjährigem Reich“ hatte man 1946 alsbald „950 Jahre Ostarrichi“ gefeiert und zur gleichen Zeit per Dekret die "Österreichische Skischule" als Markenzeichen verordnet. Der amtliche „Österreichische Skilehrplan“ war nun Kulturgut. Die Bildungseinrichtungen schenkten dem Sport auf zwei Bretteln besondere Aufmerksamkeit, Schulskikurse galten als wichtiger Teil staatsbürgerlicher Erziehung.

Sport ließ sich als ideales Bindemittel an den neuen Staat benützen, dessen Instanzen alles daransetzten, die blutigen Konflikte der Ersten Republik und das verheerende Deutschtum zu verdrängen. 1956 bezeichnete die Hälfte der Bevölkerung Österreich nicht als Nation; 1964 sahen das nur noch 15 Prozent so. In diesen Jahren gaben 80 Prozent an, sich für Sport zu interessieren, die meisten – knapp 50 Prozent – besonders stark für den Skilauf; für den Fußball waren es 30 Prozent. Mit den beiden populärsten Sportarten fanden sich die zwei großen Bereiche des Gemeinwesens angesprochen: die Bundesländer und Wien, das Ländliche und das Urbane.

Der Skilauf rutschte bestens ins neue Österreichbild. In scheinbar unbefleckter Natur präsentierte er sich frei von politischer Geschichte. So glänzte er auf der idyllisierten Kulisse, die einen Zusammenhang zwischen landschaftlicher und kultureller Eigenart, Volkscharakter und Staatsidee ausstellte. Zudem vermochten die Erfolge der Tourismuswerbung Bilder von Unschuld und aktiver Gestaltung zu liefern. Der Fremdenverkehr begann ja die Wirtschaftsbilanz der Republik gehörig aufzufetten; die beste Exportware des Landes seien seine Skilehrer, hieß es in Zeitungen.

Das goldene Image von Toni Sailer glänzte international, mit den olympischen Ehren beglaubigt. Dass allerdings bei der Verbreitung auf dem Buchmarkt die verdrängte Vergangenheit mitspielte, blieb – verdrängt. Den 1956 als Autobiographie publizierten Band Mein Weg zum dreifachen Olympiasieg hatte der ehemalige SS-Offizier Karl Springenschmid verfasst, 1938 in Salzburg der Organisator der Bücherverbrennung.

Toni Sailer vermochte ein Wunschbild des Staates zu repräsentieren: die heile Familie, wie sie der Kurier am 10. Februar 1956 vereint beim Frühstück zeigte. „Die Sailers führen ein gutes Familienleben“, hob die Zeitung hervor. Ein geruhsames Wirtschaftswunder unter dem sozialen Frieden der Großen Koalition.

Die Medien wiesen den Skistars die Rolle der Bergkinder in inszenierter Bodenständigkeit und Jugendlichkeit zu. Dem Publikum war das Klischee aus den Heimatfilmen bekannt. Das florierende Genre hatte allein in den drei Jahren nach Kriegsende trotz prekärer Versorgungslage vierzig dieser Streifen auf die Leinwände gebracht, 1955 bis 1957 die Sisi-Trilogie. Im Kino setzte Toni Sailer nach seinem frühen Rücktritt von den Pisten als Schauspieler seine Karriere fort. Er war zum „wedelnden Wiederaufbaumythos“ geworden; im Jahr 2000 wählte man ihn zu Österreichs Sportler des Jahrhunderts.

 

Zwanzig Jahre nach Sailers Triumph von Cortina d'Ampezzo sollte die Nationsbildung einen neuerlichen Antrieb im Schnee erfahren, diesmal auf den Hängen des Patscherkofels über Innsbruck. Die Tiroler Hauptstadt hatte 1964 die Olympischen Winterspiele ausgerichtet und damit die gängige Formel von Österreichs „Brückenfunktion“ zwischen Ost und West im Kalten Krieg praktisch vorgeführt. In der Folge hatten Tourismus und Skiindustrie enorme Zuwächse erlebt. Als sich dann das für 1976 vorgesehene Denver doch gegen Olympia entschied, sprang Innsbruck ein. Im Land, das sich in dieser Phase der Kreisky-Regierung als „Insel der Seligen“ präsentierte, versprach man sich gewichtige Impulse für Wirtschaft und eine Konsolidierung des Nationalgefühls.

Dazu brauchte es Siege. Als bester Garant dafür galt Franz Klammer, der die alpine „Königsdisziplin“, den Abfahrtslauf, dominierte – und Toni Sailer des österreichischen Teams als Cheftrainer konnte als Signal gelten, dass an die glorreiche Vergangenheit angeknüpft werde. Der Kärntner Bergbauernsohn Klammer entsprach dem Bild des Naturburschen, der den Erfolg der Ursprünglichkeit vor Augen führe. Der ORF sendete „TV total“, dafür setzte er drei Viertel eines Jahresbudgets ein.

 Als Klammer in Kitzbühel das letzte Rennen vor den Spielen gewann, nahm der Bundespräsident die Siegerehrung vor, auf einem Transparent stand: „Innsbruck grüßt seinen Olympiasieger Franz Klammer“. Fred Sinowatz, der Minister für Unterricht und Sport, verkündete, er werde nach der Goldenen zu Fuß auf den Patscherkofel gehen. Und die Kronen Zeitung erklärte in heimatgläubiger Vorausgewissheit „Warum Franz Klammer Gold gewinnt“. Bei der Eröffnungsfeier trug der Zweiundzwanzigjährige die Flagge und die Hoffnungen der ganzen Skination.

 Am 5. Februar 1976 waren die Straßen zur Mittagszeit leer. Schulen hatten freigegeben, Betriebe die Pause verlängert, Büros Fernseher aufgestellt.

Klammers großer Konkurrent Bernhard Russi startete mit Nummer 3. Der Bauzeichner aus der Schweiz wirkte fast mondän; vier Jahre zuvor hatte er in Sapporo die Olympiaabfahrt gewonnen, nachdem das IOC unter Avery Brundage den Favoriten Karl Schranz wegen eines läppischen Verstoßes gegen den Amateurparagraphen ausgeschlossen hatte. Schranz wurde in Wien auf dem Balkon des Bundeskanzleramtes von einer riesigen Menge, der vom ORF orchestrierten größten Demonstration seit 1945, gefeiert. Ein Disqualifizierter als Held: In der Opferrolle war man geübt.

Klammer gegen Russi, das 1972 um den Sieg gebrachte Österreich gegen die Ungerechtigkeit, das Naturverbundene gegen das Weltläufige, so präsentierte sich auf den Hängen des Patscherkofel eine Gegensatz-Erzählung, die das kollektive Gefühlswerkel in Gang setzte.

Als letzter Starter der stärksten Gruppe trug Klammer die Nummer 15. In 1:46,06 hatte Russi einen fast perfekten Lauf vorgelegt. Im oberen Teil unterlief dem Kärntner ein kleiner Fehler, bei der Zwischenzeit war er hinten. Er fuhr eine wilde Linie, er brauchte eine 45er Zeit. Ganz Österreich hoffte, hinter der 4 eine 5 aufleuchten zu sehen. 1:45,73 – Franz Klammer war Olympiasieger, mit ihm die Nation.

1977 verneinten nur noch 11 Prozent der Menschen im Land die österreichische Nation. Und 1983 gaben 93 Prozent an, sehr oder ziemlich stolz auf Österreich zu sein. An erster Stelle machten sie dafür den Sport verantwortlich, vor allem die Erfolge auf den weißen Hängen. Mitte der achtziger Jahre stand jeder zweite Mensch im Lande regelmäßig auf den Pisten, Schifoan von Wolfgang Ambros wurde zu einer heimlichen Bundeshymne.   

 

Im Februar 2015 wollte eine Umfrage wissen, welche Persönlichkeit Österreich am besten im Ausland vertrete. An erster Stelle landete der Skifahrer Marcel Hirscher, zugleich der größte Werbeträger der Republik.

Die Prioritäten traten klar hervor, als der ORF im September 2019 die Pressekonferenz von Marcel Hirscher, bei der er seinen Rückzug aus dem Skizirkus bekanntgab, im Hauptabendprogramm ausstrahlte und dafür das erste TV-Duell zur Nationalratswahl nach hinten verlegte. „In einer Nation, für die Wintersport nach dem Krieg identitätsstiftend war, steht ein Skikönig nun einmal über dem Kanzler“, schrieb Der Standard.

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