1955: Der Österreichische Staatsvertrag
Gründungsmythos der zweiten Republik zehn Jahre nach ihrer Ausrufung
Seit Jänner 1947 verhandelten die ehemaligen Alliierten der Anti-Hitler-Koalition - die USA, die UdSSR, Großbritannien und Frankreich - unter welchen völkerrechtlichen Rahmenbedingungen Österreich ein völlig souveräner Staat werden sollte. Nicht nur der Kalte Krieg und die Uneinigkeit darüber, ob es einen oder mehrere deutsche Staaten geben würde, verhinderten den Abschluss eines Staatsvertrages. Zentraler Konfliktpunkt war vor allem auch das sogenannte Deutsche Eigentum, als eine Art Wiedergutmachung für die Kriegsschäden der Alliierten. Das betraf vor allem die Sowjetunion. Die Sowjetunion wollte außerdem unbedingt einen neuerlichen „Anschluss“ an Deutschland verhindern. Die Gebietsansprüche, die Jugoslawien unter Tito auf Teile Kärntens stellte, unterstützte Moskau hingegen nur kurz. Noch 1949 wurde intern festgelegt, dass Österreich nur mit einer eigenen Armee souverän werden sollte und diese Wiederbewaffnung von den USA kontrolliert werden müsste.
Erst mit der Teilung Deutschlands ab 1949 und dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin 1953 war 1955 eine Lösung der Österreich-Frage möglich. Sein Nachfolger Nikita Sergejewitsch Chruschtschow wollte den ebenfalls neuen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower möglichst rasch treffen. Eisenhower hatte als eine der Bedingungen für ein derartiges Treffen die militärische Neutralität Österreichs nach Schweizer Muster vorgeschlagen.
Nach einer couragierten Reise einer österreichischen Regierungsdelegation mit Bundeskanzler Julius Raab, Vizekanzler Adolf Schärf und Staatssekretär Bruno Kreisky im April 1955 nach Moskau wurde sowohl eine Einigung in der Neutralitätsfrage als auch in der Entschädigung für das Deutsche Eigentum erzielt. Die finanziellen Ansprüche der Sowjetunion wurden im Staatsvertrag, die der anderen Alliierten in eigenen Abkommen geregelt.
Die Neutralität wurde nicht Teil des Staatsvertrages, sondern am 26. Oktober 1955 vom österreichischen Nationalrat gegen die Stimmen des VdU, des Vorläufers der FPÖ, beschlossen. Der Staatsvertrag wurde bereits zuvor am 15. Mai 1955 im Belvedere in Wien von den Außenministern der vier Alliierten und Außenminister Leopold Figl unterzeichnet. Noch knapp vor der Unterzeichnung reklamierte Figl erfolgreich jene Klausel hinaus, die Österreichs Mitverantwortung am 2. Weltkrieg und Nationalsozialismus festhielt.
Auch die Rechte von ethnischen Minderheiten wurden im Staatsvertrag geregelt. Trotzdem gelang es erst 2011, nach langen Verhandlungen unter der Federführung des damaligen Staatssekretärs Josef Ostermayer, die Frage von zweisprachigen Ortstafeln in Kärnten zu lösen. Noch 1972 gab es Proteste und Gewalt gegen slowenischsprachige Ortsbezeichnungen, obwohl diese auf der Grundlage des Artikels 7 des Staatsvertrags und der politischen Entscheidung von Landeshauptmann Hans Sima und Bundeskanzler Bruno Kreisky sichtbar gemacht worden waren.
Noch in den 1980er Jahren verhinderten sowjetische Politiker und Diplomat*innen einen Beitritt Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft mit Verweis auf das Anschluss-Verbot des Staatsvertrags.
Inzwischen wurde auch eine Reihe von militärischen Beschränkungen sowie Luftfahrtsbestimmungen mit Zustimmung der ehemaligen Alliierten für obsolet erklärt.
Auch das Verbot der NS-Wiederbetätigung ist Teil des Staatsvertrags. Beispielsweise wurde 1985 die Aktion Neue Rechte (ANR) vom Verfassungsgerichtshof unter Hinweis auf Artikel 4 und 9 des Staatsvertrages daran gehindert, bei den ÖH-Wahlen anzutreten.