
Die Neue Burg am Heldenplatz ist einer der wichtigsten Erinnerungsorte in Österreich, gilt sie doch als Symbol für die nationalsozialistische Geschichte des Landes. Die Fläche über dem Haupteingang dieses Gebäudes wird oft als „Hitler-Balkon“ bezeichnet. Schließlich war es dieser Ort, von dem aus Adolf Hitler am 15. März 1938 vor mehr als 200.000 begeistert jubelnden AnhängerInnen verkündete, dass Österreich nun Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reichs geworden war.
Genau genommen handelt es sich bei dem Gebäudeteil nicht um einen Balkon, der freischwebend angebaut sein müsste, sondern um eine Terrasse. Solche Bauelemente werden in der kunsthistorischen Fachsprache als Altan bezeichnet.
Nicht nur die NS-Propaganda hat diese Fläche genutzt. Im Lauf des 20. Jahrhunderts ist dieser Ort ganz unterschiedlich verwendet worden. Schon für das „Rote Wien“ und für die Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur war der Altan eine Möglichkeit, bei Veranstaltungen am Heldenplatz zu größeren Menschenmassen zu sprechen. Mit der Hitler-Rede zum „Anschluss“ Österreichs wurde die Bedeutung des Ortes auf die Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich festgelegt. Nach 1945 waren es vor allem die Bilder der unüberschaubaren Menschenmenge unter dem „Balkon“, die als Beweis für die Begeisterung vieler ÖsterreicherInnen für den Nationalsozialismus betrachtet wurden. Spätestens mit dem Gedenkjahr 1988 setzte sich ein kritischer Umgang mit dieser Geschichte um – Heldenplatz und „Hitlerbalkon“ wurden zur zentralen Frage der österreichischen Gedenk- und Erinnerungspolitik.
16. Jänner 1901: Bauhütte auf dem Altan
Die "Neue Burg" hätte eigentlich Platz schaffen sollen für die Wohn- und Repräsentationsbedürfnisse der kaiserlichen Familie. Nach genau zwanzig Jahren Bauzeit stand im Jahr 1901 auf dem Altan aber noch eine Bauhütte. Schwierigkeiten bei den Arbeiten (etwa mit den Fundamenten und Materialanlieferungen) hatten den Fortschritt verzögert. Außerdem waren zwei der zukünftigen BewohnerInnen des Gebäudes verstorben: Thronfolger Rudolf 1889 und Kaiserin Elisabeth 1898. Daher war nicht mehr ganz klar, wie die Räume verwendet werden sollten – zahlreiche Umplanungen und sogar Umbauten waren die Folge.
15. September 1912: Internationaler Eucharistischer Kongress, Abschlussfeier
Der 23. Internationale Eucharistische Kongress war eine große Inszenierung der katholischen Kirche und des Kaiserhauses gegen die Trennung von Kirche und Staat. Für die Abschlussfeier auf dem Heldenplatz stellte Erzherzog Franz Ferdinand die Neue Burg zur Verfügung, um auf „der Terrasse das diplomatische Korps, Damen von Rang und Stand des Auslandes, die in Wien hoffähigen Damen, die Teilnehmerkarten des Kongresses gelöst haben, plazieren zu können“. (Illustrierte Kronen-Zeitung, 9. August 1912, S. 2)
Als sieben Jahre später die Republik ausgerufen wurde, waren zahlreiche Innenräume der Neuen Burg innen noch ein Rohbau.
9. Juli 1925: Wiener Katholikentag
Den Höhepunkt des Katholikentags der Diözese Wien im Juli 1925 bildete eine Abschlusskundgebung auf dem Heldenplatz. Zeitungsberichte sprechen davon, dass 250.000 Menschen daran teilnahmen. Der Wiener Erzbischof Kardinal Piffl hielt eine Ansprache vom Altan der Neuen Burg. Seine Rede wurde – damals eine bemerkenswerte technische Neuheit – mit Lautsprechern auf den Platz übertragen. Übrigens wurde der Altan bereits zu dieser Zeit meist als „Balkon” bezeichnet.
2. Oktober 1927: Hindenburgfeier
Paul von Hindenburg war im Ersten Weltkrieg deutscher Generalfeldmarschall und Chef der obersten Heeresleitung. 1925 wurde er zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt. Aus Anlass seines 80. Geburtstages hielten zahlreiche deutschnational-völkische Gruppierungen eine Kundgebung auf dem Heldenplatz ab. Max Kilhof, Vorsitzender des „Verbandes der deutschvölkischen Vereine Deutsch-Österreichs“, begrüßte die TeilnehmerInnen vom Altan der Neuen Burg.
12. Juli 1929: 2. Internationales Sozialistisches Jugendtreffen
Zum 2. Internationalen Jugendtreffen der sozialistischen Arbeiterjugend kamen tausende TeilnehmerInnen aus zahlreichen Ländern nach Wien. Das Treffen wurde mit Reden vom Altan der Neuen Burg eröffnet. Der Wiener Bürgermeister Karl Seitz sprach über die Bedeutung der Völkersolidarität für den Frieden. Vor ihm hatte sich der Vorsitzende der Arbeiterjugend, Felix Kanitz, an die Menge gewandt. Dabei hatte er die Feldherrendenkmäler auf dem Heldenplatz in ein kritisches Licht gerückt und die Parole „Nie wieder Krieg!“ als Ziel einer jungen Generation ausgegeben.
8. August 1934: Totenfeier für Bundeskanzler Engelbert Dollfuß
Am 25. Juli 1934 wurde Bundeskanzler Engelbert Dollfuß bei einem nationalsozialistischen Putschversuch ermordet. Für die Totenfeier auf dem Heldenplatz bildete der Altan der Neuen Burg die zentrale Kulisse: Im Hintergrund war ein riesiges Bild der Totenmaske zu sehen, von der Brüstung hing eine Flagge mit dem Kruckenkreuz, dem Symbol des diktatorischen „christlichen, deutschen Bundesstaates auf ständischer Grundlage”. Der Nachfolger Dollfuß', Kurt Schuschnigg, hielt eine Rede vom Altan – wie auch am 25. Juli 1935, dem ersten Todestag des ermordeten Kanzlers.
29. Juli 1936: Olympisches Feuer in Wien
Seit den Olympischen Spielen von Berlin im Jahr 1936 gibt es den Fackellauf des Olympischen Feuers von Griechenland über viele Zwischenstationen zum Veranstaltungsort. Auf dem Heldenplatz wurde am 29. Juli 1936 ein Turm mit den Olympischen Ringen, einer Feuerschale und einer Rednertribüne errichtet. Die Festreden hielten Theodor Schmidt (Präsident des Österreichischen Olympischen Komitees, in der Mitte des rechten Bildes) und Ernst Rüdiger Starhemberg (der Führer der zentralen Sportorganisation der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur, genannt „Österreichische Sport- und Turnfront”). Mitglieder der Bundesregierung und Vertreter des diplomatischen Korps nahmen auf dem Altan der Neuen Burg Platz. Allerdings entwickelte sich die Veranstaltung zu einer Kundgebung der illegalen Nationalsozialisten, Starhemberg verließ sie deshalb fluchtartig.

1937: Denkmalprojekt für Kaiser Franz Joseph
Im Juli 1936 schrieb die Stadt Wien einen Ideenwettbewerb für ein Kaiser-Franz-Joseph-Denkmal aus. Der Architekt Rudolf Perthen und der Bildhauer Michael Drobil entwickelten ein Projekt für die Neue Burg: Vom Heldenplatz sollte eine monumentale Treppe zum Denkmal auf dem zu einer Terrasse umgebauten Altan führen. Ihr Entwurf wurde angekauft und bildete die Grundlage für einen weiteren Wettbewerb, ausgeschrieben von einem Komitee zur Errichtung des Denkmals. Im Herbst 1937 präsentierte eine Ausstellung im Künstlerhaus die besten Arbeiten, auf dem Altan wurde sogar ein hölzernes Modell aufgestellt. Verwirklicht wurde keiner der Entwürfe.
15. März 1938: Vorbereitungen für die „Anschluss“-Rede Adolf Hitlers
Wenige Tage nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Österreich und dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht verkündete Adolf Hitler vom Altan der Neuen Burg vor rund 250.000 Menschen „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“. Die Bilder dieser frenetisch bejubelten Rede liegen wie ein Schatten über diesem Ort. Sie zeigen die Mitverantwortung Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus.

11. Dezember 1938: Vereidigung von Rekruten
Im Dezember 1938 wurden auf dem Heldenplatz Rekruten für die deutsche Wehrmacht vereidigt. General Werner Klienitz hielt eine Ansprache auf einer Rednertribüne. Einzelne Gäste verfolgten die Veranstaltung von den Kolonaden der Neuen Burg.
13. März 1941 und 1942: Kundgebungen zum Jahrestag des „Anschlusses“
Der Jahrestag des „Anschlusses“ wurde 1941 vom NS-Regime als „Wiener Feier des Heimkehrtages“ und 1942 als „Tag der Befreiung“ mit großen Inszenierungen auf dem Heldenplatz gefeiert. In beiden Jahren sprachen der Wiener Gauleiter Baldur von Schirach und Propaganda-Minister Joseph Goebbels vom Altan zu einer Menschenmenge.
März 1978: Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm
Der ORF-Journalist Rudolf Stoiber führte für den Dokumentarfilm „Erinnerungen an Österreich“ Interviews mit elf ÖsterreicherInnen, die vor dem Nationalsozialismus fliehen mussten und im amerikanischen Exil geblieben waren. Der Schriftsteller Frederic Morton, der Filmregisseur Otto Preminger, die Schriftstellerin Gina Kaus, der Komponist Ernst Krenek und Maria Augusta von Trapp zählten zu Stoibers GesprächspartnerInnen.
Für den Film wurde auch auf dem Altan der Neuen Burg gedreht.
12. Oktober 1988: Thomas Bernhard und Claus Peymann auf dem Altan
Aus Anlass der Premiere des Theaterstücks „Heldenplatz“ am 4. November 1988 im Burgtheater platzierte der Karikaturist Oliver Schopf den Autor Thomas Bernhard und den Theaterdirektor Claus Peymann auf dem Altan der Neuen Burg. Die Zeichnung wurde in einer Nullnummer der Tageszeitung „Der Standard“ abgedruckt – eine Woche vor dem Erscheinen der ersten Ausgabe.
Das Stück „Heldenplatz“ setzt sich wortgewaltig mit dem österreichischen Umgang mit der NS-Vergangenheit auseinander. Die Premiere war von wütenden Protesten katholisch-konservativer und rechtsextremer Gruppierungen begleitet.
17. Juni 1992: Rede von Elie Wiesel beim „Konzert für Österreich“
Der Altan der Neuen Burg blieb nach dem Ende der NS-Herrschaft 1945 ein tabuisierter Ort. Die Bilder der Massenhysterie bei der „Anschluss“-Rede 1938 ließen und lassen jede Verwendung schwierig erscheinen – besonders für Veranstaltungen. Die einzige Rede in jüngster Zeit hielt der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel beim „Konzert für Österreich“ am 17. Juni 1992.
Wiesels Appell lautete damals: „Der Balkon ist nichts. Er ist ein Symbol, mehr nicht. Die Läuterung, die Veränderung kann nicht vom Balkon kommen. Sie muss von unten kommen.“
März bis November 2005: Gedenkprojekt 25 Peaces
Das Kunstprojekt 25 Peaces nahm im „Gedenkjahr“ 2005 den Altan in den Fokus. Ursprünglich sollte mit einer vom „Führerbalkon“ herabstürzenden Kaskade aus weißen Kreuzen der Opfer des Nationalsozialismus gedacht werden.
Nachdem Kritiker darauf hinwiesen, dass dieses Symbol viele Opfergruppen ausschließt, wurde das Projekt in veränderter Form realisiert. In der gerundeten Nische hinter dem Altan wurde eine überdimensionale Gedenktafel im Stil eines Grabsteins aus Marmor installiert. Sie trug die Aufschrift „Den Opfern des Nationalsozialismus“.

2008: „Der Mann auf dem Balkon“
Der 1930 in Wien geborene Rudolf Gelbard wurde als Jude 1942 in das Lager Theresienstadt deportiert. Er überlebte den nationalsozialistischen Massenmord. Im Film „Der Mann auf dem Balkon“ führt Gelbard an Schauplätze seiner Kindheit in Wien, an denen er als jüdischer Bub nach dem „Anschluss“ schwere Demütigungen erlebt hat. Der Film begleitet ihn aber auch nach Theresienstadt und thematisiert Antisemitismus und Rechtsextremismus in der Zweiten Republik. Als Symbol für den Sieg über den Nationalsozialismus betritt Gelbard in der Schlusszene den Balkon der Neuen Burg. Rudolf Gelbard starb am 24. Oktober 2018.
März 2018: Fake News und Nationalsozialismus
Der Karikaturist Oliver Schopf verknüpfte in der Tageszeitung „Der Standard“ die Propagandamethoden des Nationalsozialismus mit aktuellen Entwicklungen in den digitalen Medien. Die visuelle Verbindung zwischen 1938 und 2018 stellt das Bild durch den „Hitler-Balkon“ her.
Seit März 2018: The Voices – Susan Philipsz
Durch die Veränderung im Bewusstsein für die Zeitgeschichte wurde der Altan der Neuen Burg seit 1988 zum Symbol für die österreichische Mitverantwortung an der NS-Terrorherrschaft. Das Haus der Geschichte Österreich lud anlässlich des Gedenkens 80 Jahre nach dem „Anschluss” die schottische Künstlerin Susan Philipsz ein, eine Arbeit für den Altan zu entwickeln. Ihre Klanginstallation „The Voices“ erzeugt eine feinfühlige, unsichtbare und doch eindringliche Markierung des Altans und des Heldenplatzes als zentralem Gedächtnisort Österreichs.
Recherche: Bernhard Hachleitner
Texte: Bernhard Hachleitner, Monika Sommer, Heidemarie Uhl
Redaktion: Stefan Benedik, Eva Meran