Heidemarie Uhl ist am 11. August 2023 nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 66 Jahren gestorben. Mit ihr ist die Ikone der österreichischen Erinnerungskultur gestorben. So sehen es diejenigen, die das Glück hatten, mit ihr zusammenzuarbeiten, und das waren viele. Für die Kolleginnen und Kollegen an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften war sie eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration und eine Partnerin mit großer Gestaltungskraft und Planungsenergie. Für die Studierenden und Doktorandinnen internationaler Seminare war sie eine begeisternde Lehrerin und kommunikative Betreuerin, die ein Ohr hatte für die Ideen, Fragen und Bedürfnisse der Jüngeren, die sie auf ihren eigenen Wegen ermutigte und förderte. Aber sie war auch eine begnadete Praktikerin, die den Umbau der Denkmalskultur in Österreich maßgeblich mitgestaltete.
Wie ist Heidemarie Uhl zu dieser Leitfigur geworden, was war ihr Werdegang? Die Historikerin hatte großes Glück mit ihren akademischen Lehrern. Von Moritz Csáky und Helmut Konrad hat sie einen Blick auf die Geschichte übernommen, der humanistisch grundiert, pluralistisch geweitet und kulturwissenschaftlich informiert ist. Eine entscheidende Dimension ihrer geistigen Entwicklung hat sie aber nicht durch die Universität, sondern durch die Geschichte selbst gewonnen. Denn auch Historiker erleben Geschichte und sind geprägt durch ihre Zeitgenossenschaft. Während ihres Studiums in Graz Ende der 1980er erlebte Heidemarie Uhl eine Zeit erregter geschichtspolitischer Debatten, die das kollektive Selbstbild der Österreicher tiefgreifend veränderten. Was für Deutschland der Historikerstreit war, war für Österreich die gleichzeitige Waldheim-Affaire. Die Regierungsjahre Kurt Waldheims als Bundespräsident (1986-1992) waren von einer öffentlichen Auseinandersetzung über die Involvierung Österreichs in die NS-Geschichte begleitet. Das führte zu einer Aufgabe der bis dahin offiziellen ‚Opferthese‘, die in der Unabhängigkeitserklärung Österreichs von 1945 festgeschrieben war. Heute nennt man das ein Narrativ. Dieses Narrativ besagte, dass Österreich mit dem Anschluss 1938 das erste Opfer Hitlers gewesen sei.
Durch ihre teilnehmende Beobachtung wurde die Historikerin zu einer Erinnerungsforscherin der ersten Stunde. Ihre Lehrer förderten ihr Engagement, indem sie ihr Gelegenheit und Raum gaben, ihre Themen und Forschungen schon früh auf Workshops und internationalen Konferenzen zu entwickeln. Mit ihren Arbeiten hat sich Heidemarie Uhl wie keine andere diesem historischen Wandel zugewendet und die Transformation der österreichischen Gesellschaft mit ihrem kritischen Blick und klugen Rat begleitet, beraten und mitgestaltet. Dabei hat sie sich auf immer neue Themen im Spannungsfeld von Politik und Geschichte eingestellt wie zum Beispiel Entschädigung und Restitution, Formen des Holocaust-Gedenkens, die Kontextualisierung problematischer Denkmäler bis hin zur Vergabe des ‚European Heritage Label‘.
Der Blick dieser Erinnerungsforscherin auf die Geschichte war umfassend, und entsprechend inklusiv waren auch die Methoden, Gattungen und Kontexte, in denen sie arbeitete. Neben ihren Publikationen spielte in ihrem Schaffen die Beratung von Museen, Bibliotheken und das Kuratieren von Ausstellungen eine wichtige Rolle. Eine ihrer Ausstellungen präsentierte ‚Letzte Orte vor der Deportation‘ (2016/17), eine andere zeigt als Open-Air Ausstellung am Heldenplatz ‚Das Wiener Modell der Radikalisierung‘ (2021/22) und fokussiert dabei auf Adolf Eichmanns 1941 in Wien entwickeltes Modell der Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die Ghettos, Vernichtungslager und Mordstätten im Osten.
Die große Anerkennung dieser Wissenschaftlerin zeigen Gastprofessuren an den renommierten Universitäten in Stanford, Straßburg, Budapest oder Jerusalem. Heidemarie Uhl war aber keine einsame Gelehrte, sondern ein Genie der Kooperation. Mit ihrer Kompetenz und unerschöpflichen Arbeitsenergie blühten auch schwergewichtige Projekte auf, wie die Neue Akademie-Geschichte, die letztes Jahr pünktlich abgeliefert wurde. Ihre KollegInnen fühlen sich verwaist: „Eine Welt, in der wir Heidemarie nicht um Rat fragen können, ist kaum vorstellbar.“
Ihre schnelle Auffassungsgabe, ihr weiter Themenhorizont, ihre Arbeitsintensität, ihre Loyalität, ihre Freundlichkeit und Bescheidenheit waren legendär. Deshalb ist es ein Schmerz für ihre Freunde und KollegInnen, dass Heidemarie Uhl ihre fast fertig gestellte Festschrift nicht mehr in Empfang nehmen konnte. Sie ist jetzt zu einer Gedenkschrift geworden.
Aleida Assmann
Die Verabschiedung und Trauerfeier finden am Freitag, 22. September 2023 um 13 Uhr in der Feuerhalle Simmering statt.