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Hintergrund: Nationalismus und Vielsprachigkeit in der Habsburgermonarchie

Die Idee des Nationalstaates und des Nationalismus verbreitete sich im 19. Jahrhundert und mündete in der Bildung von „Nationalstaaten“ vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Aber auch in der Gegenwart setzt sich diese Entwicklung fort – in Zentraleuropa besonders 1991 nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Jugoslawien. Debatten um Widersprüche zwischen Umgangssprache und StaatsbürgerInnenschaft flammen in ganz Europa immer wieder auf, beispielsweise als Fragen der „nationalen Selbstbestimmung“ (wie in Katalonien oder dem Kosovo) aber auch im Zusammenhang mit neueren Migrationen. Die historische Sprachvielfalt in Zentraleuropa hat nicht nur mit Migration zu tun (das betrifft etwa die große tschechischsprachige Bevölkerung in Wien, deren Geschichte meist auf Arbeitsmigration zurückzuführen ist). Für alle trifft aber zu, dass die Idee einheitlicher „Sprachgruppen“ und „Sprachgebiete“ erst relativ jung ist und nicht mit der Lebenswirklichkeit in Verbindung zu bringen war.
Die Idee eines homogenen „Nationalstaats“ steht im Widerspruch zu den alten Monarchien Europas. Die Aufklärung verbreitete die Idee, dass die Bevölkerung eines Staates die Herrschaft übernehmen kann, eine einheitliche Nation bilden soll, als „Nationalvolk“ im Nationalstaat. Ursprünglich bezog sich die Vorstellung von „Nation“ auf alle Bürger (meist nur Männer), die in einem Staatsgebiet lebten und sich dieser Nation zugehörig fühlten. Bald setzten sich jene Deutungen durch, die „Fremde“ nicht als Zugehörige betrachteten und ihnen alle politischen Rechte absprachen. Ebenso wurden Frauen immer mehr von der politischen Macht ausgeschlossen – zur verbindlichen Vorstellung wurde, dass der nationale Bürger ein Mann war. Der Bürger hatte das Recht, ja sogar die Pflicht, politische Verantwortung für „seinen“ Nationalstaat zu übernehmen. Daraus entwickelte sich auch die Idee der allgemeinen Wehrpflicht für alle Männer (davor waren Kriege mit bezahlten Söldnern geführt worden).

 

Die zuerst noch sehr breit definierte Vorstellung von „Nation“ verschärfte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich zu einer nationalistischen Ideologie, die Nation als „Volk“ bzw. als Sprachgemeinschaft verstand. Erzählungen, Mythen und Rituale wurden geschaffen, die behaupteten, dass die Nation eine „natürliche“ Einheit mit langer Geschichte darstellt, die sich durch besondere Merkmale von anderen „Nationen“ abgrenzt. Der Kern der Idee war, dass alle Angehörigen einer Nation durch die gleiche Sprache, Kultur und Geschichte miteinander auf emotionale Weise „verbunden“ sind – eine „Schicksalsgemeinschaft“. Der Nationalismus setzte sich nach und nach in großen Teilen der Bevölkerung durch und führte, wie diese Webausstellung  zeigt, auch zu neuen Wirklichkeiten wie z.B. neuen Staaten. Dass es sich beim Nationalismus um eine „Erfindung“ handelt, wurde dann noch deutlicher als zuvor, besonders in den Gebieten der Habsburgermonarchie: Gemischt- und Vielsprachigkeit waren die Normalität, nicht „einheitlich“ besiedelte Gebiete. Personen in diesen Regionen verwendeten oft mehrere Sprachen für unterschiedliche Zwecke und ließen sich nicht einfach einer Nationalität zuordnen. Außerdem lebten (und leben) in vielen Regionen Bevölkerungsgruppen mit verschiedenen Erstsprachen. Diese Viel- und Gemischtsprachigkeit war nicht mit der eindeutigen Zuordnung, die der Nationalismus propagierte, vereinbar. Volkszählungen sollten hier Klarheit schaffen, feuerten jedoch die Debatten weiter an.

 

In Österreich-Ungarn führte der entstehende Nationalismus regelmäßig zu Konflikten zwischen den verschiedenen Sprachgruppen der vielsprachigen Monarchie. Diese Konflikte betrafen jedoch zunächst nicht die Gesamtheit der Bevölkerung, sondern sie wurden vor allem von kleinen, nationalistischen Gruppierungen getragen und besonders in gemischtsprachigen Regionen angeheizt. Beispielsweise wurden dadurch Triest oder Prag zu Zentren des Nationalismus, weil dort eine weitgehend deutschsprachige Verwaltung Regionen dominierte, deren Bevölkerung sich mehrheitlich nicht als deutsch verstand (sondern als italienisch oder tschechisch). Ein anderes Beispiel ist Graz, die Hauptstadt eines Herzogtums mit einer großen slowenischsprachigen Bevölkerung, wo der Deutschnationalismus immer radikaler wurde – als Abwehr einer vermeintlichen „slawischen Gefahr“. Die vehementen Forderungen des Nationalismus ließen sich nicht mit diesen Lebensrealitäten verbinden, deshalb wurde die Auseinandersetzung immer radikaler. Der Nationalismus bestimmte das Geschehen auf der politischen Bühne nicht nur in diesen Städten und Regionen, sondern im gesamten Staat. Die Lösung der „Nationalitätenfrage“ wurde zur entscheidenden Frage der Habsburgermonarchie.


Deutlich wurde dies schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Revolution von 1848/1849, als Ungarn sich vom Kaisertum Österreich loszulösen versuchte und auch nach dem sogenannten „Ausgleich“ zwischen Österreich und Ungarn 1867. Die Einführung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn verstärkte die Rolle von ungarischen Adeligen, Beamten und Institutionen im Staat, benachteiligte aber die slawischen Bevölkerungsgruppen. Tschechischsprachige Politiker und AktivistInnen beharrten beispielsweise auf einer Anerkennung, dass auch Böhmen ein eigenes Königreich wie Ungarn war und daher Recht auf größere Selbständigkeit hätte. Der Konflikt eskalierte an einem anderen Schauplatz: den Regelungen der Unterrichtssprachen und Amtssprachen, also der Weise, wie Ämter und Gerichte angeschrieben werden konnten. Dabei akzeptierte die späte Habsburgermonarchie grundsätzlich immer mehr die Vielsprachigkeit ihrer Bevölkerung als Realität und machte auf diese Weise Zugeständnisse an die nationalistischen Bewegungen der nicht-deutschen Bevölkerungsgruppen in bestimmten Regionen. Das führte umgekehrt zu Protesten, ja auch zu Ausschreitungen und Tumulten durch deutschnationale Gruppen, die wiederum zur Rücknahme vieler Gesetze und Regelungen führten.

 

Mark Twain, der um die Jahrhundertwende als Korrespondent in Wien lebte, schilderte in „Stirring Times in Austria“ die aufgeheizte Stimmung zwischen den Vertretern der verschiedenen „Nationalitäten“ im Parlament in Wien.

 

Es gab zwar immer wieder Ideen, wie die Monarchie neu gestaltet werden könnte, doch kaum erfolgsversprechende und konsensfähige Ideen, wie mit der Vielsprachigkeit umgegangen werden sollte (und das, obwohl sie große Gebiete wie z.B. Tirol, Böhmen, die Steiermark, Bukowina und Galizien bestimmte, aber auch viele große Städte wie Wien, Triest, Prag oder Czernowitz). Zusätzlich gab es um die Jahrhundertwende eine starke Migration innerhalb der Grenzen Österreich-Ungarns – schließlich gab es in der späten Habsburgermonarchie keine inneren Beschränkungen für Umsiedlung oder zeitweise Migration (etwa zur Arbeit) mehr, seit die Verfassung von 1867 eine Liste an Grundrechten festgeschrieben hatte. Die einfache Ziehung von „Sprachgrenzen“ – die sich nationalistische Wissenschaftler immer wieder vorgestellt hatten – war unmöglich.

 

Lesen Sie mehr zu diesem Thema in diesem kurzen wissenschaftlichen Beitrag des Historikers Pieter Judson. 

 

 

Weitere Hintergründe zur Idee und Praxis des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ am Ende des Ersten Weltkriegs finden Sie hier.

 

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