Hintergrund: Idee und Praxis des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ am Ende des Ersten Weltkriegs
Die USA waren in den Ersten Weltkrieg erst relativ spät eingestiegen. Sich schließlich doch zu engagieren, begründeten sie auch mit der Absicht, die ständigen Konflikte in Europa zu beruhigen. Dazu entwickelte US-Präsident Woodrow Wilson ein 14-Punkte-Programm mit dem Anspruch, Europa gerecht neu zu ordnen und durch die Gründung des Völkerbundes nach dem Ende des Weltkriegs der internationalen Zusammenarbeit eine Institution zu geben und Konflikte zwischen Staaten damit früh abzufedern. Den „Völkern“ Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs sicherte das 14-Punkte-Programm ein Selbstbestimmungsrecht zu. Von vielen NationalistInnen im Habsburgerreich wurde es daher mit großer Begeisterung aufgenommen. Es kam zur Gründung unabhängiger Staaten wie der Tschechoslowakei, die sich als vermeintlich einheitliche „Nationalstaaten“ verstanden, die nun das Problem des Vielvölkerstaates gelöst hätten. In Wahrheit war aber jeder neu gegründete Staat ein Vielvölkerstaat im Kleinen. Der Fehler war in einer grundlegend falschen Annahme zu suchen: Das „Selbstbestimmungsrecht“ ging von einheitlichen Sprachgebieten aus, deren Bevölkerung eben selbst entscheiden sollte, wohin sie sich zugehörig fühlte und welchem Staat sie sich anschließen wollte. Das war erstens mit der Situation der Menschen nicht vereinbar, von denen sich viele nicht eindeutig einer Nation zugehörig fühlten. Selbst wenn es einheitliche Sprachgruppen gab, beschränkten sie sich aber oft auf kleinere Siedlungsgebiete oder sogar Familien, die eng neben den Angehörigen anderer Sprachgruppen wohnten. Die Vorstellung eines einheitlichen Sprachgebiets war daher eine Fiktion.
Ein ungelöstes Problem war daher auch die Frage der StaatsbürgerInnenschaft. Viele BewohnerInnen der neu gegründeten Republik (Deutsch-)Österreich wurde diese verwehrt, weil sie nicht den nationalen oder rassistischen Bestimmungen entsprachen, die gesetzlich eingeführt wurden.
Abgesehen davon wurde das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in den Pariser Vorortverträgen gebrochen – hier wurden z.B. mehrheitlich deutschsprachige und ungarischsprachige Gebiete ohne Volksabstimmungen anderen Ländern zugesprochen. Ehemalige osmanische Regionen wurden europäischen Kolonialmächten als Mandatsgebiete zugeteilt – ganz ohne Konsultation der lokalen Bevölkerung. Das „Selbstbestimmungsrecht“ führte daher zu neuen militärischen Konflikten, weil in Wirklichkeit in jedem neu gegründeten Staat eine große Menge an Menschen lebte, die sich nicht als BürgerInnen dieses „Nationalstaats“ verstanden. Auch die Grenzziehung der neuen Republik (Deutsch-)Österreich ging mit Auseinandersetzungen und Gewalt einher, die internationale Verträge und Volksabstimmungen allerdings befrieden konnten, wie die Kapitel der Webausstellung „Abgestimmt! Wie Grenzen entstehen“ zeigen.